Spielraumnetze *03
Ein Archiv ist kein Ort des Stillstands. Es bewahrt nicht nur Objekte, sondern auch das Wissen, das ihnen eingeschrieben ist. Genau aus diesem Grund sollten die originalen Seilnetzmodelle des Architekten Conrad Roland nicht in Ziplock-Beuteln eingelagert bleiben, sondern reaktiviert werden. Im Rahmen eines eintägigen Workshops in der Studienwerkstatt Fotogarfie der Architekturfakultät des KIT wurden mehrere Modelle aus dem Nachlass des Architekten wieder aufgebaut. Während der Montage ließen sich ihre konstruktiven, materiellen und räumlichen Charakteristika unmittelbar nachvollziehen. Vor allem wurde aber deutlich, wie viel implizites Wissen in diesen Objekten steckt. Begleitet wurde der Aufbau von Torsten Frank, Senior Technical Advisor beim Spielgerätehersteller KOMPAN, der Rolands Netzideen bis heute weiterentwickelt und vertreibt. Sein Erfahrungswissen half dabei, Entwurfsprinzipien nachzuvollziehen, die sich aus Dokumenten allein nicht erschließen lassen.
Roland arbeitete viel am Modell. Für ihn waren sie Denkwerkzeuge: zur Ideenfindung, zur Prüfung konstruktiver Systeme und zur Beurteilung der räumlichen Wirkung. Dabei wechselte er spielerisch zwischen Maßstäben – von studentischen 1:1-Prototypen, über geometrische Studien bis hin zu großen Präsentationsmodellen. Das Experimentieren in verschiedenen Größenordnungen war für ihn eine Entwurfsmethode jenseits der linearen Logik von der Konzeption über den Detailplan zur konstruktiven Umsetzung. Er entwickelte seine Projekte über Jahre hinweg weiter, skalierte, kombinierte und übertrug sie in neue Kontexte – von utopischen Hängestädten zu den späteren Spielraumnetzen. Diese Dynamik war beim Workshop spürbar: Das Versetzen einzelner Knotenpunkte oder das Nachspannen eines Seils zeigte sofort, wie eng Stabilität, Beweglichkeit und Raumgefühl miteinander verbunden sind. Was in Zeichnungen abstrakt bleibt, wird am Modell konkret – und erfordert Entscheidungen.
Die Arbeit am Modell wurde umfassend dokumentiert, sowohl in Form einer Bestandsaufnahme als auch durch die Beobachtung des Entstehungsprozesses. Die fertig aufgebauten Modelle wurden aus verschiedenen Perspektiven und mit Detailaufnahmen professionell erfasst. Diese systematische Erhebung im Sinne einer Katalogisierung erleichtert den wissenschaftlichen Zugriff auf die Objekte für die Forschung. Gleichzeitig wurde auch der Aufbau selbst filmisch und fotografisch begleitet: das wiederholte Spannen und Lösen der Seile, das Setzen neuer Nägel, das vorsichtige Suchen nach den richtigen Abständen. Gerade in diesen Momenten zeigt sich, welches handwerkliche Wissen erforderlich ist, um die räumliche Qualität und statische Funktionsweise der Netzkonstruktionen zu gewährleisten. Erst das Zusammenspiel aus Entwicklungsprozess und Endergebnis ermöglicht es, Rolands Vorgehensweise zu verstehen, zu überprüfen und bei Bedarf erneut anzuwenden.
Der Wiederaufbau lieferte zudem wesentliche Erkenntnisse zur langfristigen Erhaltung der bis zu 40 Jahre alten, aus Perlonschnur (Polyamid) gefertigten Modelle. Um ihre charakteristische Form einzunehmen, müssen sie stark gespannt werden. Polyamid ist hygroskopisch. Der feuchte Sommertag, an dem der Workshop stattfand, war daher ein Vorteil: Das Garn ließ sich optimal dehnen und hielt die Form über einen gewissen Zeitraum hinweg. Aufgrund dieser Beobachtungen wurde ein neues Lagerungskonzept entwickelt: Statt wie bisher eng zusammengepresst in Beuteln und Kartons werden die Netze künftig gestreckt, weich gepolstert und atmungsaktiv in maßgefertigten Archivboxen aufbewahrt.
Solch ein Reenactment geht weit über die reine Bestandspflege von Archivmaterial hinaus. Die Dokumentation ergänzt den Nachlass um praktische Informationen, die sonst verloren gegangen wären. Es zeigt: Ein Werkarchiv ist kein statischer Ort, sondern ein dynamisches System, in dem Wissen durch die aktive Auseinandersetzung mit dem Material entsteht. Der Modellaufbau schlägt eine Brücke zwischen Archiv und Gegenwart. Die Arbeit am Modell ist nicht nur ein historischer Rückblick, sondern auch ein methodischer Schritt nach vorn, um Prozesswissen langfristig als Ressource für die Forschung zu sichern.
MG, ME, 12.12.2025

